Bernd Alois Zimmermanns Werk steht paradigmatisch für die musikalischen Entwicklungen der 1950er bis 1970er Jahre und die für diese Zeit charakteristischen ästhetischen wie kompositionstechnischen Problemstellungen. Dadurch bringt sein kompositorisches Schaffen editorische Herausforderungen mit sich, die das Konzept einer autorbezogenen Notenedition nicht nur philologisch, sondern auch konzeptionell auf eine neue Basis stellen.

Das Studio 10 der Deutschen Akademie Rom Villa Massimo als Arbeitszimmer von Bernd Alois Zimmermann, 1963/64. Foto: Bernd Alois Zimmermann, mit frdl. Genehmigung Bettina Zimmermann

Wie kaum ein anderer Komponist (nicht nur) seiner Generation hat Zimmermann die Schwierigkeiten einer Neubestimmung des eigenen Standpunktes nach dem Zweiten Weltkrieg explizit angenommen und künstlerisch wie theoretisch reflektiert. Seine seit den 1950er Jahren technisch äußerst avancierte Kompositionsweise erlaubte die Integration verschiedener musikalischer Stile, Genres und Zitate aus den unterschiedlichsten Sphären sowie die Öffnung für nicht originär musikalische Medien. Auch die Grenzen zwischen sogenannter angewandter und autonomer Musik werden durchlässig und Zimmermann greift zudem die sich wandelnden Bedingungen der Vervielfältigung und Verfügbarkeit von Musik durch Tonträger und andere technische Medien auf. Schließlich bindet eine starke Vernetzung der einzelnen Werke untereinander die Einzelkompositionen in den Gesamtkomplex des Œuvres ein. Gerade durch seine produktive Verortung im Spannungsfeld zwischen Moderne und Postmoderne wurde er zu einer der wichtigsten Identifikationsfiguren für nachfolgende Generationen.

Pilotprojekt für innovative Editionen

Aufgrund der für Zimmermanns Schaffen signifikanten Erweiterung des Musikbegriffs und angesichts der großen Komplexität der Textbasis sowie der über die Schriftform hinausweisenden medialen Vielfalt seines Schaffens – bei gleichzeitiger Beibehaltung eines emphatischen Werkverständnisses – eignet sich das Vorhaben daher als Pilotprojekt für innovative Editionen von zeitgenössischer Musik. Angesichts der Komplexität, der Vielfältigkeit und des bemerkenswerten Umfangs von Zimmermanns Schaffen sprechen hierbei aber gerade die ästhetischen und schaffensgenetischen Bedingungen dieses Œuvres gegen ausgewählte Einzeleditionen und klar für eine Gesamtedition: Zimmermann hinterließ oftmals nicht nur verschiedene Fassungen seiner Werke, sondern griff Elemente und Strukturen aus bereits abgeschlossenen Kompositionen immer wieder in neuem Kontext auf, schrieb sie gleichsam in einer Art work in progress fort und erprobte sie unter neuen Bedingungen. Zeittypisch und bis heute ästhetisch wie auch editorisch relevant ist der Wandel in der Auffassung des Kunstwerk- und des Autorbegriffs, der damit einhergeht. Sowohl die Durchlässigkeit ästhetischer Hierarchien als auch das Verhältnis zwischen Einzelwerk und Gesamtœuvre zeigen, wie deutlich sich Zimmermann von den traditionellen, hierarchischen und ästhetischen Kategorien des 19. Jahrhunderts entfernt hat, indem er eine Kompositionstechnik anstrebt, die der Vielschichtigkeit unserer musikalischen Wirklichkeit Rechnung trägt. [1]

Bei allem Festhalten an der existenziellen Dimension von Kunst nimmt er – und dies gerinnt in dem von ihm selbst verwendeten Begriff des Handwerks – eine gewissermaßen mutwillig pragmatische Haltung ein, die zum einen eine geradezu subversive Gegenposition zu emphatisch-esoterischen künstlerischen Standpunkten ermöglicht (etwa bei Stockhausen) und zum anderen bemerkenswerte experimentelle Freiräume bietet. Im Fall Zimmermann, so könnte man zuspitzen, liefert gerade das auf den ersten Blick traditionelle Konzept der Gesamtausgabe ein progressiveres Bild seines Schaffens als es eine Auswahlausgabe könnte. Denn diese könnte der Gefahr, den ästhetischen Standpunkt auf eine aus heutiger Sicht überholte und in der Tradition des Denkmalgedankens beheimatete Meisterwerk-Idee zu reduzieren, nur schwer entgehen. Gerade als Gesamtausgabe kann die Zimmermann-Edition daher einen grundlegenden Impuls setzen in der Debatte über die Perspektiven musikalischer Editionen für die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts.

Mediale Vielfalt und Werkvernetzung

Die heutigen technischen Möglichkeiten der digitalen Edition erlauben es, die Editionskonzepte auf solche individuellen Positionen einzelner Künstler in diesen Fragen zuzuschneiden. Die besondere Vernetzung der Zimmermann’schen Werke untereinander sowie die mediale Vielfalt der Quellen (die über Notenhandschriften und graphische Darstellungen, Tonbandmitschnitte und Zuspielbänder bis hin zu einer rein elektronischen Komposition reichen) stellt vor diesem Hintergrund ein geradezu ideales Erprobungsfeld für das Instrumentarium einer digitalen, internetbasierten Edition dar. Hier besteht in vielerlei Hinsicht die Chance, eine produktive Zusammenarbeit zwischen Kunst, Wissenschaft, Archiven und Verlagswesen im digitalen Feld zu etablieren und damit die Zukunft dieser technisch wie rechtlich so vieldimensionalen Interaktion aktiv und modellhaft zu gestalten. Im Zuge der Edition der Werke von Bernd Alois Zimmermann können die in den letzten Jahren entwickelten digitalen Editionswerkzeuge erstmals für die Musik nach 1945 mit ihren medialen und notationstechnischen Anforderungen erprobt und weiterentwickelt werden. Durch die im Kontext des Archivs der Akademie der Künste durch Klaus Ebbeke und Heribert Henrich bereits geleistete Quellenrecherche und -erschließung, die in dem bei Schott in Mainz erschienenen monumentalen Werkverzeichnis gipfelte, eignet sich Zimmermann hierfür auch aus pragmatischer Perspektive ganz besonders, weil so eine weitgehende Konzentration auf die editorische Arbeit selbst möglich sein wird.

Arbeitsweise

Die Bernd Alois Zimmermann-Gesamtausgabe verzichtet auf externe Herausgeberinnen und Herausgeber. Alle Notenbände werden von fest angestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erstellt, damit deren wachsende Vertrautheit mit den Besonderheiten der vorliegenden Quellenlage und vor allem mit der Vernetzung der Werke untereinander optimal zum Tragen kommt. Der charakteristischen doppelten Perspektive auf das Zimmermann’sche Œuvre – als hochgradig vernetzter Gesamtorganismus einerseits und als Reihe mit emphatischem Kunstanspruch aufzuführender Einzelwerke andererseits – trägt die Edition durch ihre hybride Anlage Rechnung, die aus einer Druckausgabe und einer digitalen, internetbasierten Edition besteht. Die gedruckten Bände werden den kritischen Aspekt der Edition eines aufführbaren Notentextes akzentuieren und vor allem die Informationen bereitstellen, die für die musikalische Praxis sowie ein darauf ausgerichtetes wissenschaftliches Interesse relevant sind. Die digitale Edition dagegen wird mehr auf Genese wie Vernetzung des Œuvres ausgerichtet sein und so den Ansprüchen eines vertieften, insbesondere quellenorientierten Forschungsinteresses dienen.

Ästhetische Relevanz

Wenn, wie Zimmermann für sich konstatiert, Komponieren Rechenschaft ablegt über die kompositorischen Unternehmungen des Werkes, und damit ebenso über Autorbegriff wie über Textverständnis, dann fordert dies der editorische Zugriff auf ein solches Komponieren in doppelter Weise. Die in der aktuellen Philologie-Debatte der Literaturwissenschaften geschärfte Idee, dass gerade die schwierigen Stellen unser Denken über die Welt bereichern, solche, die sich einer kohärenten Deutung entziehen (sei sie philologisch, hermeneutisch oder ästhetisch), findet hier ihre künstlerische Entsprechung und wird damit zur Herausforderung für Interpreten wie Editoren. Darin erweist sich die ästhetische Relevanz dieses Editionsvorhabens, wie sie Carl Dahlhaus bereits 1967 anlässlich des Erscheinens des ersten Bandes der Schönberg-Gesamtausgabe konstatiert und mit traditionellen Vorstellungen konfrontiert. Das Vorurteil, Gesamtausgaben seien Denkmäler, denen man mit verlegener Pietät begegnet – verlegen, weil sie zur Verbreitung der bekannten Werke überflüssig und zur Rettung der unbekannten fast immer untauglich erscheinen – ist ebenso irrig wie unausrottbar, schrieb er damals programmatisch in der Neue-Musik-Zeitschrift Melos  [2] – und das gilt bemerkenswerterweise noch immer. Vielleicht ist es kein Zufall, dass wir mit Dahlhaus nicht nur immer noch diese Diagnose, sondern überdies wieder die gleichzeitig jähe und beinahe schockhafte Erinnerung daran teilen, dass uns vom Geburtsjahr des Komponisten fast ein Jahrhundert trennt (und – so muss man ergänzen – vom Beginn der ebenfalls vom Akademienprogramm getragenen Schönberg-Ausgabe fast 50 Jahre).


  1. Bernd Alois Zimmermann: Vom Handwerk des Komponisten, Rundfunkmanuskript 1968, zit. nach Bernd Alois Zimmermann: Intervall und Zeit, herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Rainer Peters, Hofheim 2020, S. 149.
  2. Carl Dahlhaus: Die Schönberg-Gesamtausgabe beginnt, in: Melos 34 (1967), S. 116, gesamter Text abrufbar unter: http://www.schoenberg-gesamtausgabe.de/literatur/dahlhaus.html.